Patenschaft Innovativ Wohnen BW

Erster Experten-Dialog „Innovatives Wohnen: unbezahlbar?“

Fotocollage aus grafischen Elementen und einem Foto aus der Veranstaltung Experten-Dialog

Der erste Experten-Dialog „Innovatives Wohnen: unbezahlbar?“ im Rahmen der Patenschaft Innovativ Wohnen BW fand am 6. Oktober 2020 statt. Hier finden Sie die Dokumentation zur Veranstaltung.

STELLSCHRAUBEN FÜR DIE WOHNRAUMOFFENSIVE BW

„Mit der Wohnraumoffensive wollen wir in Baden-Württemberg ganz bewusst neue Wege zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum beschreiten“ – so Wohnungsbauministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut zum Start der Wohnraumoffensive 2019. Dieses Unterfangen, das nur als Gemeinschaftsaufgabe gelingen kann, ist anspruchsvoll. Nicht nur, weil der Themenbereich hochkomplex ist und alle Aktivitäten Zeit brauchen, um ihre Wirkung auf dem Wohnungsmarkt zu entfalten, sondern auch, weil übergeordnete Rahmensetzungen teilweise nicht beeinflussbar sind. Und gerade deshalb setzt die Wohnraumoffensive BW mit ihren drei Bausteinen an den wesentlichen Stellschrauben an: Boden, Bauen und Bewusstsein. Die Patenschaft Innovativ Wohnen (als einer dieser Bausteine) greift ganz gezielt das Thema Bewusstseinsbildung auf: Sie will die unterschiedlichen Ebenen, Instrumente und Akteure in einem Ideenpool zusammenbringen, sie sichtbar machen und den innovativen Ideen, Projekten und Quartieren eine Plattform und geschützte Räume zur Entfaltung bieten. So soll Mut zur Nachahmung gemacht und Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit die vielen guten, oft schon vorhandenen Ansätze für innovatives bezahlbares Wohnen eine weitaus größere Breitenwirkung entfalten können. In diesem Sinne: Danke an alle Expertinnen und Experten, die ihre Ideen eingespeist und damit den ersten Experten-Dialog „Innovatives Wohnen: unbezahlbar?“ bereichert haben.

IMPULSE VON CHRISTIAN HOLL

1. Herr Holl, Sie zitieren Ulrich Beck, indem Sie sagen, dass Architektur und Stadtplanung Individualität vorgeben und soziales Leben ausschließen.

Ulrich Beck hat schon vor über 30 Jahren diagnostiziert, dass die Architektur des Wohnens es unmöglich mache, dass sich für „mehrere Familien übergreifende Unterstützungszusammenhänge“ organisieren lassen. Das heißt: Die Architektur lässt es viel zu wenig zu, dass sich Gemeinschaften jenseits der Kleinfamilie bilden, die helfen könnten, den Alltag zu bewältigen. Ein Alltag, der heute noch viel mehr als vor 30 Jahren von Lebensformen und -modellen jenseits der Kleinfamilie geprägt ist. Aber die Versäumnisse gehen ja noch weiter und sind viel grundsätzlicher. An dieser Stelle werde ich nur in aller Kürze darauf eingehen können, will aber ein paar Fakten aufzählen: Der Wohnungsmarkt hat in den letzten drei Jahrzehnten bewiesen, dass er eine Grundversorgung nicht garantieren kann. Die Anzahl der Sozialwohnungen hat sich seit 2002 halbiert – trotz eines deutlichen Plus an Quadratmetern Wohnfläche, das wir in Summe verzeichnen. Gleichzeitig sind die Mieten explodiert. Das sorgt nicht nur für eine Verdrängung und hat soziale Wirkungen, sondern hat auch erhebliche ökologische Folgen, etwa in Bezug auf die Pendlerverkehre. Und noch eine Zahl: Bundesweit machen Ein- und Zweifamilienhäuser 82% aller Wohnhäuser aus. Daraus wird ersichtlich, dass der Wohnungsmarkt nicht auf die Veränderungen der sozialen Lebenswirklichkeiten in Sachen Erwerb oder Mobilität reagiert, und auch nicht auf die Veränderung der Haushaltsformen.

2. Was wäre diesbezüglich Ihr Appell?

Ich würde gerne eine Reihe von Fragen aufwerfen: Wie kann Wohnen gesellschaftliche Realitäten aufgreifen? Und dazu beitragen, die Alltagszumutungen, die sich aus ihnen ergeben, zu mildern? Wie kann die Hardware der Wohnung, des Hauses, des Quartiers helfen, den Alltag sinnvoll zu strukturieren und so zu bewältigen, dass Freiräume zur Entfaltung entstehen oder bewahrt bleiben? Mir geht es also nicht vordringlich um Innovationen in bautechnischen oder energetischen Dingen, sondern um Fragen der sozialen Struktur, der entsprechenden Grundrissorganisation und der Flächen und Raumdisponierung, aber auch der Organisationsformen des Zusammenlebens und der Entwicklung. Entscheidend ist das Bewusstsein, dass eine Änderung des Wohnungsbaus nicht geschieht, wenn die gebaute Umwelt als Endprodukt und das Wohnen als Problem angesehen wird. Wohnen ist ein Prozess, in dem Architektur, Städtebau und Quartiersentwicklung als fortwährende, zu gestaltende Aktivitäten zu betrachten sind.

3. Es gibt doch schon einige gelungene, innovative und gemeinschaftliche Wohnbauprojekte.

Die gibt es tatsächlich, aber gemessen an der Masse der Wohnungsbauproduktion sind sie eine zu vernachlässigende Größe. Sie wirken noch nicht in die Breite. Sie werden behandelt wie Modellprojekte, die in die Zukunft weisen. Dabei müssten sie schon lange die Gegenwart prägen. Gemeinschaft und Teilen muss auch in Sachen innovativem Wohnen zur Normalität und zum Standard werden. Und es ist ja nicht so, dass wir nicht Erfahrung mit alltäglichen Formen des Teilens haben. Bibliotheken, ÖPNV, Schwimmbäder – all dies sind nichts anderes als Sharing-Modelle.

ERGEBNISSE AUS DREI THEMENGESPRÄCHEN

QUARTIER

Die Schaffung von bezahlbarem Wohnraum und zugleich innovativen Wohnformen muss stärker prozesshaft angegangen und auf der Ebene des Quartiers betrachtet werden. Dabei spielt die Qualität der Ausgestaltung eine große Rolle – bezüglich Steuerung, Management und Quartierskoordination.

Das Quartier als zentrale Austauschebene („die Wahrheit liegt im Quartier“) spielt bei der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum sowie bei der Frage nach innovativen gemeinschaftlichen Ansätzen eine entscheidende Rolle. Hier leben die Menschen, hier entsteht „Betroffenheit“ und hier kann bürgerschaftliches Engagament gefördert werden. Gesamtstädtische Strategien sind in den Quartieren rückzukoppeln.

Das Quartier muss den Spagat meistern können,

  1. für die Bewohnerschaft Kontinuität im Sinne von Beständigkeit und Möglichkeit des dauerhaften Lebens im gewohnten Umfeld zu bieten und
  2. zugleich mit flexiblen Angeboten auf sich verändernde Wohn- und Umfeldsituationen reagieren zu können.

So ist die Lebensphasenorientierung bei der Ausgestaltung der Quartiersentwicklung zentral – sowohl in Bezug auf die Gestaltung der Wohnungen als auch des Wohnumfelds. Ein wichtiges Stichwort ist hier auch das mobile Wohnen, das in all seinen Facetten auf der Quartiersebene stärker ausgespielt werden sollte. Dazu ist die Nutzerfixierung aufzulösen und eine Flexibilisierung anzustreben. Mit Experimentierklauseln und/oder dem bereits verankerten Baurecht auf Zeit kann man diese Strategie erproben.

Strategische Partnerschaften mit einer Vielfalt von öffentlichen und privaten Akteuren sind Voraussetzung für eine gelingende Quartiersentwicklung (Aufbau von „Managementstrukturen“, die über das klassische Quartiersmanagement hinausgehen). Die frühzeitige Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei der Ausgestaltung der Prozesse ist von großer Bedeutung – innovative Beteiligungsformate und eine zielgruppenspezifische Ansprache sind hierbei anzuwenden.

Es es gilt, lebendige, inklusive und demografiefeste Quartiere mit einer bedarfsorientierten sozialen Infrastruktur zu schaffen. Dies gilt sowohl für den Bestand als auch für neu zu entwickelnde Quartiere. Dahingehend ist zu sensibilisieren, wobei der Dichtebegriff neu zu fassen und positiv zu definieren ist. Insbesondere im gewachsenen und städtebaulich verdichteten Quartier, aber auch in neuen Quartieren geht es viel stärker um Nähe, denn um Dichte.

MENSCH

Die Wohnraumoffensive bedeutet, prozesshaft, mutig, flexibel und partizipativ Partner und Menschen für Veränderungen zu gewinnen. Eine Vollkasko-Mentalität ist abzulegen und Konzepte sind an die gesellschaftliche Komplexität und Geschwindigkeit anzupassen. Hierzu braucht es Mut: Mut, um Wege für Neues zu ebnen und Mut, um mit einer guten Fehlerkultur Experimente zuzulassen. Neue Formen der Kooperation, zielgruppenspezifische Lösungen und eine wertschätzende Kultur des Miteinanders müssen hierfür bestimmend sein.

Für Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sind, sich unmittelbar zu engagieren und zu beteiligen, müssen geeignete Unterstützungssettings zur Teilhabe „auf Augenhöhe“ gefunden werden. Menschen zur Teilhabe zu befähigen, ein gutes Kommunikationsmanagement und das Kennenlernen der Bedürfnisse sollen am Anfang jeglichen Prozesses stehen – das schafft Akzeptanz.

Das menschliche Zusammenleben lebt von Teilhabe und wertschätzendem Handeln. Eine an den Bedürfnissen angepasste Wohnung, ein menschenwürdiges Wohnumfeld und „Treiber von außen“ können einen wichtigen Beitrag leisten. Helfen kann auch eine Anlaufstelle im Quartier, die Vertrauensverhältnisse aufbaut und Kompetenzen bündelt.

Unternehmen und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für das Gemeinwohl und die Menschen in ihrem Lebens- und Arbeitsumfeld einsetzen, müssen gestärkt werden. Hierbei sind Anreize zu schaffen und Konzepte zu fördern, die den unterschiedlichen Lebensphasen und (alternativen) Lebensmodellen der einzelnen Menschen gerecht werden.

Die Bedürfnisse der Menschen, die im Quartier wohnen und leben, sollen im Mittelpunkt stehen – die Architektur und der Städtebau wiederum unterstützen diesen Ansatz und bringen innovative Ideen in den Prozess ein. Kurz gesagt: Die Architektur muss auf Menschen reagieren und nicht andersherum.

Beispielhafte Modelle und experimentelle Ansätze sind zu initiieren und zu erproben. Wissen aus der Praxis von „Innovativ Wohnen BW“ soll als Motor und „Anschauungsmaterial“ für ein neues, bedarfsgerechtes und auf den Mensch bezogenes Wohnen fungieren

GEBÄUDE

Der Mehrwert innovativer, nachhaltiger Konzepte für Gebäude und Bauen allgemein wird bislang am Markt zu wenig erkannt und nachgefragt. Daher braucht es neue Wohnkonzepte und Leitbilder in den Köpfen der Menschen. Durch ein verändertes Bewusstsein verbessern sich die Marktbedingungen für gute Projekte. Dann ist auch ein Konsens für notwendige Veränderungen möglich. Wird der persönliche Mehrwert in einer neuen Idee erkannt, kann mehr Veränderung erreicht werden als durch Restriktionen und Vorgaben. Dieser Wille zur Veränderung ist auch von den zuständigen Behörden, die sich ressort- bzw. ämterübergreifend der Problemlösung annehmen, einzufordern.

Der Wohnflächenkonsum (Anm.: derzeit 46,4 m² Wohnfläche pro Person in Baden-Württemberg) ist bei der Lösung der Wohnraumproblematik ein zentraler Ansatzpunkt in der Gebäudegestaltung. Hier sollte durch intelligente Konzepte und Angebote angesetzt werden, um beispielsweise im Alter den Umzug in eine individuell passende Wohnung zu erleichtern. Ähnlich gelagert stellt sich diese Thematik im Bereich gewerblicher Flächen dar. Weniger die Umverteilung als vielmehr die Flächeneffizienz in Form von Aufstockungen etc. ist anzugehen.

Innovative Lösungen können innerhalb realer Rahmenbedingungen entstehen, sofern die vorhandenen Spielräume intelligent ausgenutzt werden. Allerdings ist es notwendig, die Vielzahl an Normen im Baubereich (unter Einhaltung der Schutzziele) zu überprüfen. Hier können regulatorische Experimentier-Räume zielführend sein, um neue Lösungen auszuprobieren und eine Risikokompensation anzustreben.

Das starre Korsett von Wettbewerben (Städtebau / Architektur) mit ihren detaillierten Vorgaben kann in Bezug auf Innovation auch kontraproduktiv sein. Alternative Formate zur Ideengewinnung, die offen sind, auch für gar nicht gestellte Fragen innovative Ideen zu entwickeln, sind anzuregen

PERSPEKTIVE „INNOVATIVES WOHNEN: UNBEZAHLBAR!“

Mehr-Wert durch Dialog – wir haben wichtige Einsichten gewonnen.

Bezahlbarkeit und Innovation im Wohnen voranzutreiben, bedeutet für uns nach diesem ersten ExpertenDialog noch klarer als zuvor:

Letztlich geht es mit Blick auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt um die entscheidende Zukunftsaufgabe, allen Bevölkerungsschichten den Weg nicht nur zu ausreichendem, sondern der individuellen (Lebens-) Situation gerecht werdendem Wohnraum zu ebnen und dabei ein selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen.

Innovation und Bezahlbarkeit im Wohnen müssen die Bedürfnisse der Menschen in den Mittelpunkt stellen und werden vor allem durch Ansätze, Verfahren und Maßnahmen beschleunigt, die Wohnen als Prozess denken und diesen bereichern, die gemeinschaftliche (und damit nicht zwangsläufig neue, sondern bislang unterrepräsentierte) Wohnformen marktfähig machen und sie in den Kontext des jeweiligen Quartiers integrieren.

Was wir mitnehmen – Innovations-Indikatoren weiter auf der Spur bleiben.

Die Patenschaft Innovativ Wohnen muss jenseits der bisher vorhandenen Förderprogramme und Instrumente weitergehen und den „zu ebnenden Weg“ zu ausreichendem und adäquatem Wohnraum umfassend begleiten. Das bedeutet, ihn mitsamt seinen Abzweigungen, Gabelungen und Unebenheiten dort mitzugestalten, wo sinnvolle Richtungsweiser aufgestellt werden können.

Wir können jetzt mit der zweiten Fördertranche der beispielgebenden Projekte eine solche Wegweisung vornehmen. Die nahezu 60 Projekteinreichungen thematisieren ganz überwiegend die verschiedenen Facetten gemeinschaftlichen Wohnens – die bis zum Jahresende erfolgende Auswahl steht somit „unter dem Eindruck“ des ersten Experten-Dialogs.

Die Themengespräche des Experten-Dialogs führen uns dahin, dass wir die bisherigen Förderkategorien der beispielgebenden Projekte Quartier, Gebäude, Mensch zukünftig nicht mehr als einzelne Themenfelder betrachten. Vielmehr greifen die Kategorien ineinander und stellen in ihrer Kombination einen wichtigen „Klebstoff“ für Innovation und Bezahlbarkeit im Wohnen dar.

Nächste Schritte – how to make to be continued.

Die Patenschaft Innovativ Wohnen BW ist prozessoffen und sucht nach direkten und zügigen Wegen. Diese sollen durch offene Austauschformate und das flexible, zukünftig stark themenspezifische Zusammenwirken unterschiedlicher Akteure entstehen.

Der Experten-Dialog wird also weitergehen – im Frühjahr 2021. Den Ansatz der beispielgebenden Projekte weiterentwickelnd, wollen wir (wie angekündigt) Experimentier-Räume aufbauen. Vor Ort sollen innovative Planungs- und Genehmigungsabläufe erprobt und neue Formen des Bauens, der Nutzungsmischung und des Zusammenlebens entwickelt werden, auch in Kombination mit weiteren Instrumenten der Wohnraumoffensive.

// //